
Ich habe vor vielen Jahren in der südlichen Türkei zum ersten Mal einen sehr deutlichen Ansatz eines MVP, also eines lebensfähigen/marktfähigen Minimalprodukts, im Bausektor gesehen. Der Begriff MVP war damals noch nicht geprägt und ich fragte mich, wieso dort viele unfertige Häuser mit mehreren Stockwerken standen, von denen jedoch teilweise ein bis zwei Etagen voll ausgebaut und bewohnt zu sein schienen. Die Frage wurde mir beantwortet: Gebaut werde, wenn Geld vorhanden sei. Man versuche daher, erst einzelne Etagen fertigzustellen, um von den Mieteinnahmen nach und nach weiter bauen zu können.
Es wird also angefangen zu bauen, ein Minimalprodukt (aus Sicht des Bauherren) errichtet und mit diesem Einnahmen generiert. Dann wird das Produkt weiter ausgebaut.
Die Umgebung der „Bauhäuser“ entsprach dem Bild, was häufig in Baugebieten vorzufinden ist. Keine ausgebauten Straßen oder Fußwege, keine Gärten oder gepflasterte Auffahrten. All dies war für den Bauherren und die Bewohner offenbar nicht so hoch priorisiert, wie ein Dach über dem Kopf, fließend Wasser und separierte Koch-, Schlaf- und Wohnräume zu haben. Und das kann sicher jeder gut nachvollziehen.
Damals war mit das Vorgehen im ersten Moment suspekt. Kannte ich es doch eigentlich so, dass ein Hausbau komplett durchgeplant, dann umgesetzt und am Ende abgenommen wird. Im besten Fall sind bei Einzug schon sämtliche Erschließungs- und Pflasterarbeiten um das Haus herum erledigt.
Lange Zeit dachte ich, dass ein MVP eigentlich nur in der Softwareentwicklung wirklich gut umzusetzen sei. Inzwischen bin ich ein Stück weit beeindruckt von dem Vorgehen der türkischen Bauherren und erkenne darin einige der Vor- und Nachteile des MVP-Ansatzes:
Vorteile
- Schnellere Bereitstellung des Produkts, das wichtigste Kundenbedürfnisse erfüllt
- Bessere Überschaubarkeit des Umfangs
- Schnellere Umsetzbarkeit dadurch
- verbesserte Reaktionszeit und reduziertes Risiko
- Geringere Anfangsinvestition
- frühere Überprüfbarkeit, ob Kundenbedürfnis umfangreich erfüllt sind
Nachteile
- Nicht alle Bedürfnisse sind von Anfang an gedeckt
- Eventuell unbekannte Anforderungen, die erst im Projektverlauf aufkommen
- Kein exakter Zeit- und Kostenplan zum Erreichen der (unbekannten) Endausbaustufe
Die Vorteile überwiegen in vielen Fällen deutliche den Nachteilen. Aber gerade in Branchen, in denen bereits etablierte Produkte existieren, ist durch einen MVP-Ansatz i.d.R. nur ein geringer Marktanteil zu erreichen – es sei denn, dass das MVP Eigenschaften besitzt, die es einzigartig machen und für die breite Masse Kundeschaft einen großen Mehrwert schaffen (USP).
Warum ist der MVP-Ansatz im agilen Umfeld so verbreitet
Das MVP erlaubt es, dem Kunden schnell ein passendes Produkt an die Hand zu geben. Bleiben wir bei dem Beispiel mit dem Haus. Hier sind anfangs die verschiedenen Räume in ihrer Grundausstattung vorhanden. Wenn der Bewohner einzieht, wird er schnell realisieren, welche Dinge er sich als nächstes wünscht und der Bauherr kann entsprechend passende Angebote dazu unterbreiten, was nicht nur in diesem Beispiel an gewisse Grenzen stößt. Das Haus aus der Stadt an den Strand zu verlegen dürfte einer der schwieriger zu erfüllenden Kundenwünsche sein.
Der Kunde kann dem Auftragnehmer also sehr schnell mitteilen, in welche Richtung sich das Produkt entwickeln soll und der Auftragnehmer kann entsprechend tätig werden und sein Produkt verbessern, ohne im Vorfeld ein umfangreiches Produkt geschaffen zu haben, welches ganz oder teilweise an den Kundenbedürfnissen vorbei geht.
Im agilen Umfeld geht es genau um diese Vorgehensweise: Kurze Zyklen, nach denen aus Erkenntnisse gewonnen werden und geprüft wird, ob die Produktentwicklung den Kundenanforderungen entspricht. Darüber hinaus kann nach der jeder Iteration außerdem neue Anforderungen ermittelt und die Priorität der nächsten Schritte neu verteilt werden. Aus diesem Grund ergänzen sich der MVP-Ansatz und agiles Vorgehen sehr gut.
Eine gewisse Vorsicht ist bei den Kundenanforderungen jedoch immer geboten, denn der Kunde weiß manchmal nicht, welche Möglichkeiten es gibt, ob seine Anforderungen überhaupt umsetzbar sind oder welche Aufwände hinter der Umsetzung lauern.